Frankreich: Meuterei der Verzweifelten

Abschiebung: Die neue EU-Richtline und die Revolte der gefangenen "unerwünschten Einwanderer" in Frankreich

[telepolis.de] Infolge einer Revolte der dort gefangenen "unerwünschten
Einwanderer " brannte eine Abschiebehaftanstalt in Vincennes, vor den
Toren von Paris bis auf die Grundmauern nieder. Dieses Ereignis
(1) vom vergangenen Sonntag gibt seit Tagen Anlass zu einer heftigen
innenpolitischen Polemik in Frankreich. Eine in der vergangenen Woche
verabschiedete Richtlinie der Europäischen Union sieht unterdessen eine
unionsweite Tendenz zur Vereinheitlichung der Abschiebepraktiken vor.
Könnte es morgen in der ganzen EU zu Aufständen von Verzweifelten
kommen, die meinen, "nichts mehr zu verlieren zu haben"?

Eine "Häufung von Zwischenfällen solcher Art" für die nahe Zukunft befürchtet
(2) zumindest in Frankreich der sozialdemokratische Minister und
frühere Minister für europäische Angelegenheiten, Pierre Moscovici. Der
Ausdruck "Zwischenfälle solcher Art" bezeichnet Revolten, Meuterei und
Aufstände in jenen Zentren, in denen "unerwünschte Einwanderer" aus
anderen Weltgegenden festgehalten werden – um ihre Entfernung vom
Staatsgebiet vorzubereiten.

Eine Revolte, wie sich etwa am vergangenen Sonntag ereignete, als ein solches Zentrum im Bois de Vincennes
– dem Stadtwald vor den Toren von Paris – bis auf die Grundmauern
niederbrannte. Es brannte aus, weil die Insassen der Anstalten
rebelliert und ihre Matratzen in Brand gesteckt hatten. Jetzt
beschuldigen sich die Opposition, die darin eine Folge der harten
Regierungspolitik gegen Zuwanderer sieht, und das konservative
Regierungslager gegenseitig. Aus den Reihen des Letzteren wurden die
Unterstützer der unerwünscht im Lande sich im Lande Aufhaltenden
inzwischen gar als "quasi-terroristisch" bezeichnet (3). Aber der Reihe nach.

Abschiebehaft: Freiheitsentzug, "aber keine Bestrafung"

Mangels eines besseren Ausdrucks werden solche Einrichtungen wie die
jetzt abgebrannte im Folgenden als "Abschiebegefängnisse" bezeichnet.
Dieser deutschsprachige Begriff entspricht nicht der französischen
Bezeichnung – centre de rétention administrative,
wörtlich "Zentrum der Verwaltung zum Festhalten (von Personen)". Das
geltende französische Rechtsverständnis unterscheidet strikt zwischen
Gefängnissen, in denen Verurteilte ihre von einem Gericht verhängte
Strafe absitzen, einerseits und solchen "administrativen
Verwahrungszentren" andererseits. Sitzen doch in letztgenannten
Anstalten überwiegend Menschen, die sich nichts anderes haben
zuschulden kommen lassen, als den "falschen" Ausweis zu besitzen und
sich in einem Land aufzuhalten, dessen Behörden ihnen nicht das Recht
dazu erteilen möchten.

Obwohl das geltende französische Recht ihre – notfalls erzwungene – "Entfernung" (éloignement)
vom Staatsgebiet als gesetzmäßig erachtet, betrachtet es dennoch die
Periode, die zwischen dem Ergreifen einer "illegal" im Lande sich
aufhaltenden Person und der Durchführung ihrer Abschiebung erforderlich
ist, nicht als Haftzeit. Liegt diesem "Festhalten" doch kein Vergehen
oder Verbrechen – und eine infolgedessen verhängte Strafe – zugrunde.
Sondern lediglich die technische "Notwendigkeit", die Person eben
einzusperren, damit sie sich ihrer "Entfernung" wider Willen nicht
entzieht.

Dieses Rechtsverständnis überwog bislang auch in der Mehrzahl der
EU-Länder. Umgekehrt wird der "Gewahrsam vor der Abschiebung" in einem
Teil der deutschen Bundesländer sowie in Irland auch offiziell als
"Abschiebehaft" bezeichnet und in – speziellen oder auch nicht
spezialisierten – Gefängnissen zugebracht (4).

In der Praxis bedeutet dies freilich für die Betroffenen in Frankreich
unter Umständen auch, dass sie bestimmte Rechte, die per Gesetz den
Strafgefangenen zuerkannt worden sind, nicht wahrnehmen dürfen – mit
dem Argument, ihre "Verwahrung" sei eben keine Haft. Auf der anderen
Seite ist die Periode, während derer eine Person in
"Administrativverwahrung" festgehalten werden darf, bislang in
Frankreich relativ kurz. Die geltende französische Gesetzgebung
befristet sie auf 32 Tage.

Aber dies könnte sich demnächst ändern. Wohl auch aus
diesem Grunde – und aufgrund der starken Erhöhung der Zahl der
durchgeführten Abschiebungen seit dem Amtsantritt von Präsident Nicolas
Sarkozy – rechnen Oppositionspolitiker wie der oben zitierte Moscovici
mit der zukünftigen Häufung von "Zwischenfällen".

EU-Richtlinie zur Angleichung: Anpassung an das härteste Rechtsverständnis…

Am Mittwoch vergangener Fassung nahm das Europäische
Parlament – nach monatelangem politischem Tauziehen zwischen den
Fraktionen im Europaparlament, sowie zwischen ihnen und der Brüsseler
Kommission – die so genannte "Rückkehr-Richtlinie" an. Es handelt sich
dabei um einen Text, der eine tendenzielle Vereinheitlichung der
Abschiebepraktiken für unerwünschte Einwanderer in den verschiedenen
Mitgliedsländern der Union herbeiführen soll. Denn sowohl die Dauer der
Abschiebehaft bzw. des "administrativen Festhaltens" ist in den
unterschiedlichen EU-Staaten ausgesprochen unterschiedlich geregelt.

Bei dem jetzt verabschiedeten Text handelt es sich zwar angeblich um
eine "Kompromissfassung", nachdem Bürgerrechtsinitiativen,
Solidaritätsvereinigungen und linke Gruppen monatelang gegen den
Entwurf der EU-Kommission Sturm gelaufen waren. Und doch liegt ihm eine
Logik der Angleichung zwischen den Mitgliedsstaaten zugrunde, die –
falls sie denn durchgeführt wird – zu einer Anpassung der übrigen
Länder an jene mit dem härtesten Rechtsverständnis führen müsste.

…das deutsche

So definiert die neue europäische Richtlinie etwa
eine zulässige Höchstdauer der Abschiebehaft, bzw. des "administrativen
Festhaltens". Letztere beträgt nun, laut Richtlinie, 18 Monate. Das
entspricht dem geltenden Rechtsstand in nur zwei EU-Ländern: in
Deutschland sowie in Italien – dort aber erst seit kurzem, nämlich seit
dem Amtsantritt der Berlusconi-Regierung. Zuvor hatte ihre Dauer in
Italien noch einen Monat betragen.

In 16 Staaten der EU dagegen gelten derzeit noch Regelungen, die eine
zulässige Höchstdauer unterhalb von 18 Monaten vorsehen. In Frankreich
(mit 32 Tagen) sowie, bis vor kurzem, in Italien ist diese Dauer mit am
kürzesten. Das in diesen Ländern herrschende Rechtsverständnis besagt,
dass eine Person überhaupt nur in Abschiebehaft bzw.
"Administrativverwahrung" gehalten werden darf, um – möglichst schnell
– ein geeignetes Transportmittel und (falls erforderlich) gültige
Reisedokumente für ihre erzwungene Rückreise zu besorgen. Auf keinen
Fall aber solle sich dieses Festhalten in einen Dauerzustand, eine Art
Haft ohne zuvor begangenes Verbrechen, verwandeln.

Sieben EU-Staaten sahen bisher keine gesetzliche
Begrenzung der Abschiebehaftdauer vor. Lediglich in diesen Ländern
könnte die neue Richtlinie eventuell zu einer Verbesserung der
Situation führen. Allerdings ist die neue Richtlinie für
Großbritannien, als das wichtigste Land ohne gesetzliche Begrenzung
dieser Dauer, nicht rechtsverbindlich. Denn ebenso wie Irland gehört es
nicht dem seit 1995 geltenden "Schengener Abkommen" über gemeinsame
Grenzkontrollen an.

In allen anderen Ländern könnte die EU-Richtlinie dazu herhalten, die
Situation erheblich zu verschärfen. Zwar dient diese offiziell
lediglich dazu, "Mindeststandards" zu definieren – hindert also
einzelne Mitgliedsländer nicht daran, selbst bessere Rechtsstandards zu
garantieren. Nur ist fraglich, ob deren Regierungen das noch wünschen,
wo doch nunmehr ein europaweit definierter "Standard" definiert worden
ist. Das Beispiel Italien, wo die neue Rechts-Rechts-Regierung unter
Silvio Berlusconi und den Rassisten von der Lega Nord in Blitzeseile
die zulässige Höchstdauer der Abschiebehaft von einem Monat auf 18
Monate – den neuen "EU-Standard" – angehoben hat, könnte Schule machen.

Allerdings hat der "Einwanderungsminister" der französischen Regierung,
Brice Hortefeux, zu Anfang dieser Woche noch zugesagt, in seinem Lande
werde es zu keiner Erhöhung der zulässigen Höchstdauer von derzeit 32
Tagen kommen
(5). Doch ist fraglich, ob dies auch längerfristig so bleiben wird.
Denn im Jahr 2003 hatte die regierende Rechte in Frankreich selbst
diese gesetzlich zulässige Dauer auf zwei Monate anheben wollen – zuvor
hatte sie noch zehn Tage betragen. Allerdings scheiterte sie damals
noch am Widerstand des französischen Verfassungsgerichts. Letzteres
könnte allerdings seine Position, mit Blick auf das geltende neue
EU-Recht, möglicherweise ändern.

Proteste gegen die "Richtlinie der Schande"

Dass auch der als repressiv geltende französische
Minister Hortefeux derzeit beim geltenden inländischen Recht bleiben
möchte, hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass er innenpolitisch
mächtig unter Druck steht. In Frankreich existierte nämlich eine der
stärksten Protestbewegungen gegen die Verabschiedung der neuen
Richtlinie, die von Bürgerrechtsgruppen und Solidaritätsinitiativen
allgemein nur als "Richtlinie der Schande" (directive de la honte) bezeichnet (6) wurde.

Im Visier der Kritiker stand nicht nur die Anhebung der Höchstdauer der
Abschiebehaft – die laut den Anhängern der "Kompromissfassung" nur für
die Fälle gelten soll, wo Schwierigkeiten bei der Organisierung der
erzwungenen Rückreise auftauchen, "wenn die Person oder aber die
Behörden ihres Herkunftslands nicht kooperieren".
Menschenrechtsvereinigungen kritisierten auch die durch die Richtlinie
neu eingeführte Bestimmung, wonach einmal abgeschobene "unerwünschte
Zuwanderer" mit einem fünfjährigen Einreiseverbot in die gesamte EU
belegt werden können. Zudem erlaubt die Richtlinie grundsätzlich auch,
Kinder und Jugendliche in Abschiebehaft zu halten, und sieht nur
schwammig formulierte Einschränkungen vor – wie die Bedingungen, ihre
Verweildauer dort solle "so kurz wie möglich" gehalten werden.

Internationaler Protest

Nicht nur oppositionelle Gruppen in Europa
protestierten gegen die Verabschiedung der neuen Richtlinie, sondern
auch eine Reihe ausländischer Regierungen. Am lautstarksten meldeten
sich die lateinamerikanischen Regierenden zu Wort
(7). Während der venezolanische Präsident Hugo Chavez – der allerdings
dafür bekannt ist, dass seinen starken Sprüchen keineswegs immer Taten
folgen – den EU-Ländern einen Öllieferstopp androhte, kündigte Ecuador
unter Rafael Correa an, seine konsularischen Vertretungen im Ausland
würden bei Abschiebungen nicht kooperieren. Etwa durch die Ausstellung
von Reisedokumenten, ohne die eine Person nicht abgeschoben werden
kann, die keinen Reisepass bei sich führt.

Ferner forderte Boliviens Staatsoberhaupt Evo Morales die afrikanischen
Staaten auf, sich dem Protest anzuschließen. Deren Regimes haben sich
allerdings kaum vernehmlich protestiert, unter anderem wohl, weil viele
von ihnen finanziell und politisch stark von Frankreich oder anderen
EU-Ländern abhängig sind. Oder aber weil die einheimischen Potentaten
ihre finanziellen Interessen hauptsächlich in Europa haben, wo ihre
Guthaben gebunkert sind und wo sie – im Falle eines Sturzes oder
sonstigen Abgangs – einen ruhigen Lebensabend zu verbringen gedenken.

Die Revolte im Abschiebegefängnis vor den Toren von
Paris hängt allerdings nicht direkt mit diesen internationalen
Ereignissen zusammen. Vielmehr resultierte sie aus den inneren
Spannungen, die seit längerem in der Anstalt herrschten. In einem
offiziellen Untersuchungsbericht vom 5. Juni dieses Jahres war für den
Fall eines weiteren Anstiegs der Spannungen übrigens bereits eine
Meuterei oder Revolte vorhergesagt worden
(8). Nur ist die Prophezeiung möglicherweise früher eingetreten, als
die Nationale Kommission zur Kontrolle der Abschiebegefängnisse – von
der dieser Untersuchungsbericht stammt – es wohl vermutet hätte.

Aber was ist nun eigentlich am vergangenen Sonntag passiert?

Abschiebezentrum in Flammen

Die Anwesenden trauten zunächst ihren Augen nicht.
Zunächst nur rund 40 Personen, später 150 bis 200 Personen waren am
Sonntag Nachmittag zu einer – relativ spontan anberaumten –
Protestkundgebung vor dem Abschiebegefängnis im Bois de Vincennes, dem Stadtwald südöstlich von Paris, versammelt. Anlass war der Tod eines 41jährigen
Tunesiers mit Namen Salem Essouli am Samstag. Er starb laut offiziellen
Angaben der Pariser Polizeipräfektur an Herzversagen. Der tunesische
Staatsbürger war laut Angaben seiner Mithäftlinge chronisch krank und
hatte am Samstag um 15 Uhr den Zugang zu Medikamenten verlangt.
Vergeblich. Um dieselbe Zeit hatte ein ebenfalls in der
Abschiebehaftanstalt festgehaltener Ägypter einen Selbstmordversuch
begangen, indem er Eisendrähte verschluckte, um seiner für diese Woche
angesetzten Abschiebung zu entgehen.

Das "Netzwerk Erziehung ohne Grenzen" ( RESF
(9), das hauptsächlich Kinder und Jugendliche vor drohenden
Abschiebungen – zusammen mit ihren Familien – versteckt, hatte für den
darauffolgenden Nachmittag zur Protestversammlung vor den Toren des
Abschiebegefängnisses aufgerufen.

Und plötzlich stieg, gegen 16 Uhr, dicker Rauch aus
den Dächern der beiden Gebäude der Abschiebehaftanstalt auf. Und
alsbald züngelten auch Flammen aus einem der Dächer. Binnen weniger
Minuten brannte eines der beiden Gebäude aus, das Dach brach nach innen
hin ein, und nur noch die Mauern blieben stehen. Der andere Bau
hingegen kokelte rund zwei Stunden vor sich, bis auch dort dasselbe
Ergebnis eintrat. Am frühen Sonntag Abend blieben von den beiden
kasernenähnlichen Gebäuden der Abschiebehaftanstalt, die auf dem
Gelände einer Polizeischule im Bois de Vincennes liegt, nur noch aschgraue kahle Mauern übrig (vgl. Bilder, hier (10) und hier (11)).

Unterdessen drangen Schreie aus dem Inneren der beiden Gebäude. Bei der
Polizei schien nackte Panik zu herrschen, behelmte und bewaffnete
Bereitschaftspolizisten der CRS liefen hin und her. Gruppenweise wurden
Insassen der Abschiebehaftanstalt in die Turnhalle und in den Innenhof
geführt und argwöhnischen Auges überwacht, unter der Drohung, jederzeit
Tränengas gegen sie einzusetzen, falls sie eine falsche Bewegung
unternähmen. Dort waren sie aber weiterhin der Rauchentwicklung infolge
des Brandes ausgesetzt. Mehrere Personen mussten mit Rauchvergiftung
ins Freie transportiert werden.

Dagegen haben es allem Anschein nach (einzelne) Abschiebehäftlinge doch
geschafft, die Gelegenheit zu nutzen, die Beine in die Hand zu nehmen
und in die Freiheit zu entkommen. Am Sonntag Abend wurde ihre Zahl
zunächst auf 56 geschätzt, doch am Montag wurde sie lt. offiziellen
Angaben auf 14 herunter korrigiert. Am Dienstag gab die
Polizeipräfektur von Paris dann an, "nach dem letzten Appell" habe sich
herausgestellt, dass doch nur ein Abschiebehäftling – ein ägyptischer
Staatsbürger – entkommen sei. Aber möglicherweise möchte die Präfektur
auch nur nicht öffentlich einräumen, wie viele "Abschüblinge" ihr in
Wirklichkeit durch die Lappen gegangen sind, um jegliche
"Anstiftungswirkung" zu unterbinden.

Die übrigen – jene, die nicht abhauen konnten – wurden auf
Abschiebehaftanstalten in ganz Frankreich, vom nordfranzösischen Lille
über Palaiseau (im Pariser Umland) bis hinunter ins südliche Nîmes.
Aufgrund "fehlerhaften Verfahrens" bei der Überstellung ließen
französische Gerichte daraufhin am Dienstag 12 Abschiebehäftlinge auf
freien Fuß: Bei ihnen die obligatorische Rechtsbelehrung unterblieben.
Oder sie hätten am folgenden Tag einen vom Gesetz zwingend
vorgeschriebenen Termin zur Vorführung vor einem Richter, der über ihre
Freilassung oder weitere Festhaltung entscheiden sollte, gehabt – der
infolge der Überstellung in andere Abschiebehaftanstalten ausfiel.
Dagegen entschied ein Gericht im südfranzösischen Nîmes am Mittwoch,
die neun auf Freilassung klagenden Insassen im dortigen
Abschiebezentrum zu belassen.

Allerdings dürften die französischen Behörden nun in
naher Zukunft einen Engpass bei den landesweit zur Verfügung stehenden
Plätzen in den Abschiebehaftanstalten antreffen. Die Anstalt von
Vincennes war die mit Abstand größte in ganz Frankreich. Es existieren
aber derzeit noch zwanzig andere "Verwahrungszentren".

Ebenfalls am Mittwoch wurden zwei der früheren
Insassen der Abschiebeanstalt von Vincennes, Herr Koné und Herr Diallo,
in Paris einem Rechter vorgeführt. Sie wurden im Eilverfahren – das die
Strafprozessordnung nur bei Flagrantidelikten zulässt – angeklagt, die
Anstalt in Brand gesteckt zu haben. Beobachter und
Solidaritätsinitiativen sprachen unterdessen von "Sündenböcken" und
wiesen darauf hin, dass gerade diese beiden Staatsbürger des
westafrikanischen Mali sich – vor dem Brand – gegenüber Journalisten
kritisch über die Zustände in der Abschiebehaftanstalt hatten äußern
können.

Ihnen zufolge sollte deswegen an den beiden ein Exempel statuiert werden
(12). Am Mittwoch Abend wurden die beiden jedoch auf freien Fuß
gesetzt, ihnen wurde jedoch eine Meldepflicht auferlegt. Bislang konnte
ihnen nicht nachgewiesen werden, dass ihnen der Brand – Ergebnis einer
kollektiven Revolte – als persönliche "Tat" zuzuschreiben sei.
Andernfalls würden ihnen schwere Strafen drohen.

Stress und Spannungen

Der Brand war das Ergebnis einer Revolte im Inneren
der Abschiebehaftanstalt: Der Selbstmordversuch des Ägypters und der
Tod des herzkranken Tunesiers waren für viele Insassen nur der Tropfen,
der das Fass zum Überlaufen brachte. Insassen hatte ihre Matratzen in
Brand gesteckt – mutmaßlich ohne im ersten Augenblick zu ahnen, dass
sie dadurch ein solches Feuer auslösen und die ganze Anstalt abfackeln
würden.

Die zuvor herrschende Situation im Inneren wird als seit Tagen und Wochen angespannt beschrieben. Das Centre de rétention administrative
fasst 280 Plätze und war zum Zeitpunkt des Brandes mit 248 belegt.
Damit herrschte zwar formal keine Überbelegung, wie sich die Regierung
auch zu Wochenanfang – in einem "Dementi gegen die Anschuldigungen der
Solidaritätsinitiativen" – beeilte zu betonen. Dennoch ist eine Anstalt
wie die im Bois de Vincennes, die administrativ zum 12. Pariser Bezirk
gehört, im Prinzip nicht für so viele Personen ausgelegt: Normalerweise
darf sie nach französischen Vorschriften nur die Hälfte, 140 Personen,
fassen.

Das Abschiebezentrum im Pariser Stadtwald war jedoch vor zwei Jahren
vergrößert worden, nachdem das so genannte "Ausländerdepot" – auch als
"Mausefalle" bekannt – in den Kellergeschossen unterhalb der Pariser
Polizeipräfektur (neben dem Justizpalast auf der Stadtinsel Ile de la Cité)
nach jahrelanger Ankündigung endlich geschlossen worden war. In den
unterirdischen Räumen hatten derart unerträgliche Zustände geherrscht,
dass es seit Jahren durch Journalistenberichte und durch
Solidaritätsinitiativen angeprangert worden war. Im Gegenzug wurde
allerdings die Aufnahmekapazität der ach so schönen "modernen" Anstalt
im Bois de Vincennes stark ausgebaut. Und das ist noch nicht alles: Im
anderen Abschiebeknast im Pariser Raum, in Le Mesnil-Amelot in der Nähe
des Flughafens von Roissy, sind derzeit zusätzliche Räume auf einer
Fläche von 17.000 Quadratmeter zusätzlicher Räume in Bau.

Bedenkliche hygienische Zustände

Zur starken Auffüllung der Abschiebehaftanstalt
kommen oft noch schwere menschliche Situationen und hygienische
Verhältnisse hinzu. Wie die Wochenzeitung ‚Le Canard enchaîné‘ im April
enthüllte, hatte etwa die Firma GEPSA – eine Filiale des Multikonzerns
Suez -, die seit dem 1. Januar 2007 als Subunternehmen mit der
"Betreuung" der Abschiebehäftlinge, der Lieferung von Bettwäsche und
Kantinenesse betraut worden war, entschieden, die Bettlaken und Decken
nur alle vier Monate auszuwechseln. Um Kosten zu sparen.

Neuankömmlinge bekamen stinkende und abstoßende Bettwäsche in die Hand
gedrückt, viele von ihnen schliefen auf Matratzen auf dem Boden. Dies
rief einen Skandal hervor – aber derjenige Angestellte, der
"ausgepackt" und die unmöglichen Zustände beschrieben hatte, wurde fristlos entlassen
(13). Das Unternehmen berief sich darauf, den Auflagenkatalog der
Pariser Polizeipräfektur – der die Abschiebehaftanstalt untersteht, die
aber ihre konkrete Verwaltung an Privatunternehmen weitergegeben hatte
– "nicht richtig gelesen zu haben". Welch bedauerlicher Irrtum.
Tatsächlich steht in dem Auflagenkatalog, den das Subunternehmen
sozusagen nicht richtig interpretiert hat, dass – zumindest – bei jeder
Ankunft eines neuen Insassen die Bettwäsche gewechselt werden solle.

Schon zu Jahresanfang war es infolge der starken
Anspannung unter den Abschiebehäftlingen zu Revolten und Hungerstreiks
gekommen. Am 11. Februar setzten
(14) die Polizeikräfte dabei den "Taser" gegen Abschiebehäftlinge ein.
Dabei handelt es sich um ein elektrisches Gerät, das "Aufrührern"
starke Stromstöße versetzt – und das in Nordamerika von
Menschenrechtsorganisationen beschuldigt wird, 150 Tote in den USA und
Kanada bei polizeilichen Einsätzen hinterlassen zu haben.

Ob das Gerät deswegen als gefährlich bezeichnet werden darf, muss
demnächst in Frankreich in einem Prozess geklärt werden: Das
französische Unternehmen, das die Apparate hierzulande ausliefert,
hatte gegen den linksradikalen Politiker Olivier Besancenot geklagt –
weil der Präsidentschaftskandidat vom letzten Jahr behauptet hatte,
dass der "Taser" töten könne, und sich dabei auf die Angaben
US-amerikanischer NGOs berief.

Die Solidaritätsinitiativen reagierten sofort auf die Ereignisse vom
Sonntag, unterstützten die Revolte und prangerten die Abschiebepolitik
unter Präsident Nicolas Sarkozy (der ein jährliches Kontingent von
25.000 "effektiv durchgeführten Entfernungsmaßnahmen" angeordnet hat)
als verantwortlich an. U.a. die Antirassismusbewegung MRAP, die
französisch-tunesische "Vereinigung für Bürgerrechte auf beiden Ufern
(des Mittelmeers)" FTCR und andere Verbände riefen für den Dienstag zu
einer Solidaritätskundgebung vor den Mauern des abgebrannten
Abschiebeknasts auf, an der mehrere Hundert Menschen teilnahmen.

Unterdessen beschuldigte die konservative
Regierungspartei UMP das "Netzwerk Erziehung ohne Grenzen" RESF, die
Abschiebehäftlinge durch ihre Solidaritätsdemos "aufzuwiegeln" und
dadurch "Menschenleben zu gefährden" – so der Parteisprecher Frédéric
Lefevbre. Dies führte am Montag zu einer heftigen innenpolitischen
Polemik, während sich Abgeordnete der UMP und der französischen KP im
Innenhof der abgebrannten Abschiebehaftanstalt gegenseitig
beschimpften.

Den Vogel schoss jedoch der nationale Sprecher der
UMP für die Jugendlichen, David Weiss, ab – indem er das "Netzwerk
Erziehung ohne Grenzen" gleich als "quasi terroristische Bewegung" bezeichnete
(15). In dasselbe Horn stieß unterdessen auch die Neonazi-Webpage
Novopress, die das RESF in die Nähe von "Brandstiftern" rückte und
dabei den konservativen Parteisprecher Lefevbre zitierte (16).

Unterdessen zog der rechtsextreme Front National in einer
Presseaussendung eine Parallele zwischen dem "von Illegalen
organsierten Aufstand" in der Anstalt von Vincennes und den Ereignissen
in der auf marokkanischem Territorium gelegenen spanischen Enklave
Melilla. Dort hatten einige Stunden zuvor einige Dutzend Afrika
versucht, den Sperrzaun zu überwinden, um auf EU-Gebiet zu gelangen.
Der Front National spricht davon, dies zeige "das wahre Gesicht der
Einwanderung", die "mit Unterstützung von Aposteln der Globalisierung
und Internationalisten der radikalen Linken immer stärker
aufwieglerische/aufrührerische Züge annehme
(17). Kurz, die Weltverschwörung gegen die Nation ist im Gange, mit
Unterstützung von Kapitalisten und Kommunisten – das alte Lied der
Rechtsradikalen.

Es weht also ein scharfer Wind aus mehreren Ecken,
aufgrund dessen sich eine Tendenz zur Kriminalisierung von Einwanderern
und ihrer Unterstützer abzeichnet. Die Verelendeten der Welt, die kaum
etwas zu verlieren haben, dürfte dies nicht davon abhalten, ihr Glück
dort zu versuchen, wo sie sich ein besseres Leben erhoffen.

Links

(1)
http://www.swissinfo.ch/ger/news/newsticker/international/Abschiebehaeftlinge_legen_Feuer_20_Verletzte_bei_Paris.html?siteSect=143&sid=9249730&cKey=1214231769000&ty=ti&positionT=1
(2)
http://tempsreel.nouvelobs.com/depeches/politique/20080623.FAP1150/incendie_de_vincennes_pierre_moscovici_predit_la_multip.html
(3) http://nantes.indymedia.org/attachments/jun2008/jeunesumpresf.mp3
(4) http://fr.news.yahoo.com/ap/20080625/tpl-paris-retention-incendie-hortefeux-cfb2994.html
(5) http://news.google.fr/news?hl=fr&tab=wn&ned=fr&q=hortefeux+32+jours&btnG=Recherche+Actualit%C3%A9s
(6) http://eemnews.umc-europe.org/2008/juin/25-08.php
(7) http://bellaciao.org/fr/spip.php?article68074
(8)
http://www.ouest-france.fr/Incendie-du-centre-de-retention-de-Vincennes-un-rapport-avait-tire-la-sonnette-d-alarme/re/actuDet/actu_3631-652781——_actu.html
(9) http://Réseau éducation sans frontières
(10) http://www.rue89.com/2008/06/22/les-images-de-lincendie-au-centre-de-retention-de-vincennes
(11) http://www.dailymotion.com/mychannel/gerardv/video/x5vj2h_incendie-au-centre-de-retention-de_news?from=rss
(12) http://www.millebabords.org/spip.php?article8806
(13) http://detoxinfo.over-blog.com/categorie-10322728.html
(14) http://www.vacarme.eu.org/article1623.html und
http://www.rue89.com/2008/02/27/taser-en-retention-violence-a-l’abri-des-regards
(15) http://nantes.indymedia.org/attachments/jun2008/jeunesumpresf.mp3
(16) http://paris.novopress.info/?p=3190
(17) http://www.frontnational.com/communique_detail.php?id=1724

Bernard Schmid 29.06.2008

Source: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/28/28210/1.html