Vorausschauende Informationsmakler

Europol, gemeinsame Ermittlungsgruppen und grenzüberschreitende Spitzel gegen Tierrechtsaktivismus

Matthias Monroy

„Europäische Stellen wie Europol, Eurojust, die Agentur für Grundrechte und Frontex haben in ihrem jeweiligen Tätigkeitsbereich volle Funktionsfähigkeit erreicht“, freuen sich die EU-Innen- und Justizminister_innen im 2009 beschlossenen „Stockholmer Programm“, dem aktuellen Mehrjahresprogramm für die EU-Innen- und Justizpolitik. Doch damit nicht genug: Neben der Zuarbeit für das EU-Geheimdienstzentrum SitCen in Brüssel fordert der Europäische Rat, dass Europol zum „Angelpunkt des Informationsaustauschs“ zwischen obersten Polizeichefs, Staatsanwaltschaften, Leiter_innen von Fortbildungsinstituten und Gefängnisverwaltungen oder Generaldirektor_innen der Zollbehörden werden möge. Neben der fortschreitenden Koordinierung mit der Grenzschutzagentur Frontex, der Lissabonner Drogenbeobachtungsstelle, dem künftigen Europäischen Unterstützungsbüro für Asylfragen und der Agentur für Grundrechte fungiert Europol zudem als europäisches „Ressourcenzentrum“ für Cyberkriminalität.

Europol seit 1992 und 1999

Die Schaffung von Europol wurde 1992 im Vertrag von Maastricht als „Europäisches Polizeiamt“ mit Sitz in Den Haag festgeschrieben. Vorausgegangen war ein Vorschlag Deutschlands im Europäischen Rat aus dem Jahr 1991, eine „Europäische Kriminalpolizeiliche Zentralstelle“ zu errichten, um den grenzüberschreitenden Informationsaustausch unter europäischen Polizeien zu vereinfachen. Bis zur endgültigen Unterzeichnung des Lissabon-Vertrags 2009 gehörte Europol als zwischenstaatliche Einrichtung der sogenannten „Dritten Säule“ zur polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS), in der die EU damals keine eigenen Beschlüsse fassen konnte. EU-Abgeordnete brauchten folglich über Veränderungen lediglich unterrichtet werden, eine parlamentarische Kontrolle blieb den Mitgliedsstaaten reserviert.

In ihrer Geschichtsschreibung markiert Europol erst 1999 als jenes Jahr, in dem die Behörde in der gegenwärtigen Form entstand. Waren zuvor strategische Aktivitäten im Vordergrund, erhielt Europol mit „Aufklärung“ und „Entsendung von Spezialisten“ zunehmend operative Kompetenzen. Das Aufgabengebiet wandelte sich von der Bekämpfung und Prävention des Drogenhandels hin zu neuen Formen grenzüberschreitender Straftaten, darunter die Fälschung der neuen Euro-Währung und Kreditkarten, Geldwäsche, Wirtschaftskriminalität und Korruption, Umweltkriminalität, Schutzgelderpressung, KFZ-Kriminalität oder Produktpiraterie, aber auch Kriminalitätsforschung und grenzüberschreitende Aus- und Fortbildung. Nach dem „Tampere Programm“, dem ersten Mehrjahresprogramm zur Innen- und Justizpolitik der EU aus dem Jahre 1999, kam die Einbindung in die „European Police Chiefs Task Force“ (EPCTF) zur Erleichterung grenzüberschreitender Polizei-Missionen hinzu. 2001 wurden die Abteilungen „Ermittlungsunterstützung“, „Analyse und Aufklärung“ und „Organisiertes Verbrechen“ zur „Abteilung für ernsthafte Straftaten“ zusammengefasst. Die bessere Anbindung an die Verfolgungsbehörden der Mitgliedsstaaten erfolgt durch die nationalen „Europol National Units“ (ENU) und ein undurchsichtiges Netzwerk von Verbindungsbeamt_innen („Europol-Liaison Officers“ ELO).

Spätestens nach 9/11 geriet der „Kampf gegen Terrorismus“ und seiner Finanzierung zum neuen zentralen Arbeitsbereich. 2002 wurde der Aufgabenbereich auf den „Kampf gegen illegale Migration“ und „Menschenhandel“ ausgeweitet – heute teilweise übernommen durch die „Grenzschutzagentur“ Frontex. In der Verordnung zur Einrichtung der EU-Grenzpolizei wird ihre Zusammenarbeit mit Europol festgeschrieben. Das Papier regelt den gegenseitigen Austausch „operativer, strategischer oder technischer Informationen“ einschließlich personenbezogener Daten und Verschlusssachen, das später durch ein „strategisches Kooperationsabkommen“ erweitert wurde. Frontex hilft Europol bei der Erstellung von Risikoanalysen zur „Bedrohungslage im Bereich der organisierten Kriminalität“. Im Juni 2008 hatte der Europäische Rat Frontex erneut angewiesen, im Rahmen des geplanten Europäischen Grenzschutzsystems „Eurosur“ noch enger mit Europol zusammenzuarbeiten.

Mit Beginn des Jahres 2010 wurde aus der Polizeibehörde eine „Polizeiagentur“. „Informationsaustausch, Analyse und Sachverstand unter einem Dach“, jubiliert Europol in der kurz zuvor erschienen Festschrift zum zehnjährigen Bestehen. 2011 bezieht die Agentur ein neues Hauptquartier im Stadtteil Statenkwartier in Den Haag.
Europol wird jetzt wie das „Europäische Amt für Betrugsbekämpfung“ (OLAF) oder die „Europäische Polizeiakademie“ (CEPOL) durch den Gesamthaushalt der Europäischen Union finanziert. Das Europol-Übereinkommen wurde hierfür durch einen Ratsbeschluss ersetzt. Europol will laut Selbstauskunft ein „weltweit herausragendes Zentrum der Weltklasse“ werden. Die Agentur ist jetzt nicht mehr nur für Terrorismus und organisierte Kriminalität, sondern auch offiziell für „sämtliche Formen von schwerer internationaler Kriminalität“ zuständig, sofern sie zwei oder mehr Mitgliedsstaaten betreffen.

Zentrum grenzüberschreitender Kooperation

Das Personal von Europol hat sich in den letzten zehn Jahren auf 634 vervierfacht. Mit dem Deutschen Jürgen Storbeck als erstem amtierenden Direktor 1999 und seinem Nachfolger Max-Peter Ratzel, vorher BKA-Abteilungspräsident, konnte Deutschland bis zum Antritt des Briten Rob Wainwright 2009 sein Gewicht in der Organisation ausbauen. Ratzel hatte im Oktober 2007 die neue „Strategy for Europol“ entwickelt, die er als „letztes Puzzle-Teil“ der neuen Zukunft Europols vorstellte. Weil die Behörde vergleichsweise wenig Personal aufstellt, soll der Apparat durch seine analytischen Kapazitäten zum Pionier im Bereich grenzüberschreitendem Datentausch werden. Unter deutscher EU-Ratspräsidentschaft 2007 waren hierzu bereits drei Änderungsprotokolle des Europol-Durchführungsabkommens verabschiedet und von Innenminister Schäuble feierlich überreicht worden.

Mit dem „Haager Programm“, dem Mehrjahresprogramm von 2004, avancierte Europol zum „Zentrum der EU-weiten Kooperation zur Strafverfolgung“. Kurz zuvor hatte die Behörde ein Kooperationsabkommen mit der „Europäischen Einheit für justizielle Zusammenarbeit“ (Eurojust) unterzeichnet. Die 2002 eingerichtete europäische Justizbehörde, ebenfalls mit Sitz in Den Haag, ist das justizielle Pendant Europols. Eurojust will den Informationsaustausch zwischen nationalen Justiz- und Polizeibehörden erleichtern. Mit Beschluss des Europäischen Rates vom 16. Dezember 2008 erweitert sich der Kompetenzbereich von Eurojust ab 2010 beträchtlich: „Es ist an der Zeit dafür Sorge zu tragen, dass Eurojust operativer wird und dass der Status der nationalen Mitglieder angenähert wird“.
Gemäß dem Lissabon-Vertrag ist Eurojust angehalten, grenzüberschreitende Ermittlungen und Strafverfolgungen nicht nur zu koordinieren, sondern auch anzustoßen. In den Mitgliedstaaten sollten nationale Eurojust-Koordinierungssysteme zur Fallbearbeitung eingerichtet werden, um die bereits existierenden nationalen Eurojust-Anlaufstellen miteinander zu verzahnen (Anlaufstellen für Terrorismusfragen, das Europäische Justizielle Netz, gemeinsame Ermittlungsteams, Kontaktstellen gegen Kriegsverbrechen, Vermögensabschöpfung und Korruption).
Eurojust kann personenbezogene Daten verarbeiten, darunter neben rechtskräftig Verurteilten auch Daten von Verdächtigen oder Kontaktpersonen inklusive Telefonnummern, E-Mailadressen, Fahrzeugregisterdaten, DNA-Profile, Lichtbilder, Fingerabdrücke, Verbindungs- und Standortdaten „sowie alle damit in Zusammenhang stehenden Daten, die zur Feststellung des Teilnehmers oder Benutzers eines öffentlich zugänglichen elektronischen Kommunikationsdienstes erforderlich sind“.

Wie Europol kann sich seit 2002 auch Eurojust an „gemeinsamen Ermittlungsgruppen“ (GEG) beteiligen. In den GEG verabreden sich Polizeien oder Staatsanwaltschaften der EU-Mitgliedsstaaten zu Ermittlungen. Die GEG gehen – wie die auch ansonsten innerhalb der EU weit fortgeschrittene grenzüberschreitende Polizeizusammenarbeit – auf ein Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen (EU-Rh-Übk) zurück, das der EU-Ministerrat vor zehn Jahren angenommen hatte. Vorteilhaft ist, dass Mitglieder einer GEG gegenseitig eine Strafverfolgung im „Partnerstaat“ anregen können und Ermittlungsergebnisse in allen beteiligten Ländern verwerten dürfen. Gemeinsame Ermittlungsgruppen gelten als Zukunftsmodell für die Kooperation von Polizei- und Justizbehörden, obgleich ihre Einrichtung bislang vergleichsweise selten zustande kommt. Deutschland war etwa 2008 an fünf GEG beteiligt, darunter drei mit dem Bundeskriminalamt und zwei mit den Landeskriminalämtern Stuttgart und Hamburg. Kooperiert wurde mit den Niederlanden, Bulgarien, der Slowakischen Republik und Frankreich.

Datentausch auch mit „Drittstaaten“

Zur grenzüberschreitenden Kooperation schließt Europol Abkommen mit zahlreichen „Drittstaaten“ außerhalb der EU, darunter Marokko, Russland, Kolumbien, Türkei oder Kanada. Seit 2001 kooperiert die Agentur mit den USA, zunächst in einer „strategischen und technischen Kooperation“, seit 2002 auch auf „operativer Ebene“ mit dem Austausch personenbezogener Informationen. Bereits seit 2001 besteht zwischen Europol und US-Behörden ein strategisches Zusammenarbeitsabkommen, das 2002 um eine Ergänzung zur Übermittlung von Personendaten ergänzt wurde. Auch die Migrationsbekämpfungs-Agentur Frontex hat 2009 ein Arbeitsabkommen unterzeichnet, mit dem die „Risikoanalyse, Entwicklung und Forschung im Grenzschutz sowie Aus- und Fortbildung“ erleichtert werden soll.

Die Ausweitung der Beziehungen mit den USA wurde unter anderem in dem im Dezember verabschiedeten aktuellen Fünfjahresplan zur inneren Sicherheit „Stockholmer Programm“ festgeschrieben. In der undurchsichtigen „Future Group“ organisierte europäische Innenminister_innen hatten bereits 2007 gefordert, ab 2014 eine weitgehende „euro-atlantische Kooperation mit den USA“ in Bereichen innerer Sicherheit einzugehen.
Europol ist hinsichtlich des SWIFT-Abkommens der EU mit den USA zur Übermittlung von Daten internationaler Finanztransaktionen aus EU-Ländern zum transatlantischen Datenwächter aufgestiegen. Die Agentur bekommt gleichzeitig aufbereitete Informationen über „Treffer“ in Datensätzen von US-Behörden geliefert und hat damit ein hohes Eigeninteresse an der Überlassung möglichst vieler Rohdaten an die USA. Zur Weiterverwertung der von den USA zurückgelieferten Daten wurde die neue Organisationseinheit „O 9“ gegründet, die fortan Informationen verarbeitet, die zur „Verfolgung, Verhütung, Aufdeckung und Ermittlung von Terrorismus und Terrorismusfinanzierung dienlich sein können“. „O 9“ ist auch verantwortlich für die Weiterverteilung an andere Behörden.

Weitere Schritte zur EU-US-Kooperation sind in einem „EU-US joint statement on enhancing transatlantic cooperation in the area of justice, freedom and security“ niedergelegt, die vor allem eine engere Zusammenarbeit mit den Agenturen Europol, Eurojust und Frontex betreffen. Die USA wollen dort eigene Verbindungskräfte führen, um den Informationsaustausch zu erleichtern. Als gemeinsame Projekte gelten unter anderem die Bekämpfung von „Radikalisierung und Anwerbung“, „Radikalisierung in Gefängnissen“ oder „Geldwäsche“. Weitere Kooperationsfelder sind biometrisch gestützte Grenzkontrollen, von USA und EU eingeführte Programme zur Registrierung von Ein- und Ausreisen und automatisiert überwachte Grenzen. Als Regionen, in den EU und USA gemeinsame Interessen hegen, gelten unter anderem der „westliche Balkan“, Westafrika und die Sahel-Region.

Die USA melden indes neue Begehrlichkeiten an, um mit Europol ins Datentauschgeschäft zu kommen. US-Behörden arbeiten an einer Machbarkeitsstudie zur Teilnahme an der Europol-Analysedatei (AWF) „Hydra“ („weltweiter islamistischer Terrorismus“). Die an der AWF teilnehmenden Mitgliedsstaaten müssen gemeinsam über das Ansinnen entscheiden. Nach dem Lissabon Vertrag hat das europäische Parlament in Belangen von Justiz und Innerem zwar ein Mitspracherecht in Gesetzgebungsangelegenheiten, für die operative Arbeit jedoch lediglich ein Informationsrecht. Folglich haben die Parlamentarier_innen keine Möglichkeit, gegenüber der US-Forderung nach Zugriff auf Europols Datensammlungen zu intervenieren.

„The keyword here is information“

Europol bezeichnet sich selbst als „Information Broker“ und sieht sich dem Grundsatz eines „proaktiven Handelns“ verpflichtet. Die Behörde gibt die jährlichen „Trend-Reports“ zu organisierter Kriminalität („Organised Crime Threat Assessment OCTA) und zu Terrorismus („Terrorism Situation and Trend Report“ TE-SAT) heraus. Auch die halbjährlich erneuerte Antiterrorliste; der EU wird unter Zuarbeit von Europol erstellt. Europol ist zudem mittels „Risikoanalysen“ in die Vorbereitung von polizeilichen Großereignissen eingebunden. Hierfür wurden bereits anlässlich der Fußball-WM 2006 (inklusive einem „einschlägigen Gefährdungslagebildes“), des G8-Gipfels 2007 und des NATO-Gipfels 2009 Daten an das deutsche Bundeskriminalamt geliefert.

Zentraler Bestandteil der Agentur sind die umfangreichen Datenbanken, deren Einrichtung im Europol-Übereinkommen festgelegt ist. Dieses laut Selbstauskunft „automatisierte System“ besteht aus drei Säulen: Dem Informationssystem (Personen, Straftaten und Verweise auf aktenführende Stellen) und den Analysedateien (fallbezogene Dateien mit Daten von ZeugInnen, Opfern, Kontakt-, Begleit- oder Auskunftspersonen). Ein drittes Indexsystem verschlagwortet alle Einträge. Die Zahl der Analysedateien ist 2009 auf 21 gewachsen, hinzugekommen ist „Maritime Piracy“ (Bekämpfung der Piraterie) und „Check the Web“ (Austausch über „islamistisch-extremistische Internetauftritte“), mit der Internetseiten auf Zusammenhänge mit Terroranschlägen durchsucht werden.
Das Europol-Informationssystem kann aus den Mitgliedsstaaten bequem per automatisiertem „Data-Uploader“ mit den jeweiligen nationalen Zentral- und Verbunddateien synchronisiert werden. Europol erklärt, dass bereits 10 Mitgliedsstaaten den „Data Loader“ nutzen würden und damit 81% des Gesamtdatenbestandes lieferten. Gegenüber dem Vorjahr habe sich der gesamte Datenpool zudem um 57% erhöht.

Europol speichert in Analysedateien neben Daten zu Verurteilten und Verdächtigen auch Informationen zu Kontakt- und Begleitpersonen, darunter bei Ermittlungen zusammengetragenes Material wie Videos und Fotos, aber auch „Lebensweise“ und „Gewohnheiten“, „Einsatz von Doppelagenten“, „Drogenmissbrauch“ sowie Datenspuren elektronischer Kommunikation. Doch damit nicht genug: Erfasst werden Stimmprofil, Blutgruppe oder Gebiss. Die deutsche Bundesregierung bestätigt in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage, dass auch „rassische oder ethnische Herkunft, politische Meinungen, religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen oder die Gewerkschaftszugehörigkeit“ als Speicherkategorien existieren. Beschwichtigt wird, dass diese nur verarbeitet würden wenn dies „unbedingt notwendig“ sei. Sofern es um Auskünfte über gespeicherte Kontakt- und Begleitpersonen geht, bedürfe es eines Antrags von „zwei oder mehr an dem Analyseprojekt teilnehmenden Mitgliedsstaaten“.

Seit 2005 haben alle EU-Mitgliedsstaaten Zugriff auf das Informationssystem. Deutschland gilt als größter Beitragszahler für Europol und hatte bis zur Umwandlung in eine Agentur 2010 nach eigenen Angaben 20 % des sich auf ca. 65 Mio. Euro belaufenden Haushaltes finanziert. Dafür haben deutsche Verfolgungsbehörden enormen Gebrauch von der Behörde gemacht: Nachdem neben dem Bundeskriminalamt auch die Landeskriminalämter an das Europol-Informationssystem angeschlossen waren verbucht Deutschland die „meisten Zulieferungen und Abfragen“. Laut der jüngsten Auskunft der Bundesregierung beläuft sich der deutsche Anteil aller bei Europol eingestellten Daten auf stattliche 33%.

Nicht durchsetzen konnte sich das deutsche Bundesinnenministerium mit der nach dem G8-Gipfel in Heiligendamm 2007 vom Bundesrat gebilligten Forderung, die Errichtung der deutschen Datei über „international agierende gewaltbereite Störer“ (IgaSt) im Europol-Informationssystem anzusiedeln und damit auf Dauer allen EU-Verfolgungsbehörden zugänglich zu machen. Die EU-Kommission will nun mit einer Machbarkeitsstudie prüfen, ob die linke politische Datensammlung stattdessen im ebenfalls geplanten EU-Strafrechtsregister (EPRIS) angesiedelt werden könnte. Die Bundesregierung leistet heftigen Widerstand und forderte zwei getrennte Studien zu EPRIS und IgaSt. Was sich wie ein unbedeutender Schlagabtausch anhört hat einen durchaus wichtigen Hintergrund: Die Kommission geht davon aus, dass zu jedem „reisenden Störer“ eine Kriminalakte existiert, die folglich auch im zukünftigen EPRIS vorhanden wäre. Deutschland archiviert in der einheimischen Datensammlung IgaSt allerdings größtenteils Aktivist_innen, gegen die weder ermittelt noch verhandelt wurde und die stattdessen bei Polizeimaßnahmen, etwa am Rande von Gipfelprotesten, angetroffen wurden. Im Visier stehen also Betroffene, über die es weder juristische noch polizeiliche schriftliche Vorgänge gibt und die somit nicht im EPRIS gespeichert werden können.

Etliche EU-weite Abkommen erweitern die Europol-Datenbanken, hinzu kommen „ergänzende“ Datensammlungen mit „zahlreichen weiteren Informationsprodukten und –dienstleistungen“, darunter etwa ATLAS („Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen Anti-Terror-Teams“) oder OASIS („Übergreifendes Analysesystem zur Aufklärung und Unterstützung“). 2011 steht die Weiterentwicklung des Europol-Kommunikationssystems SIENA (Tausch operativer und strategischer Informationen unter den angeschlossenen Dienststellen der Mitgliedsstaaten) im Vordergrund. Zudem baut Europol ein „Internet Crime Reporting Online System“ auf, um Straftaten, die durch das Tatmittel Internet begangen wurden, zu erfassen. Damit nicht genug: Europol richtet eine „European Cybercrime Platform“ ein, die laut Bundesregierung auch von deutschen Verfolgungsbehörden beliefert wird.

Während Europol zur Zentrale des EU-weiten polizeilichen Datentauschs wird, erweitern sich die Rechte der Gespeicherten nur unwesentlich. Zwar gibt es grundsätzlich ein individuelles Auskunftsrecht über gespeicherte Daten, das allerdings durch „Rechte und Freiheiten Dritter“ eingeschränkt wird, wonach „unmittelbar betroffene Mitgliedsstaaten“ Einspruch gegen eine Auskunft einlegen können. Betroffenen wird dann nicht einmal der Hinweis über einen Eintrag mitgeteilt. 2008 hat es lediglich 135 Auskunftsersuchen gegeben.

Digitale Hilfsmittel

Europol spricht in der Jubiläumsschrift stolz von einer „informationsbasierten Strafverfolgung“, „Wissensmanagement“ und „Social Network Analysis“ mithilfe computergestützter Analysetechniken. Damit würden vor allem „komplexe Datenmengen schnell mittels mathematischer Algorithmen“ untersucht um „‚Schlüsselpersonen‘ oder ‚versteckte Muster‘ sichtbar zu machen“. Die deutsche Bundesregierung bestätigt, dass Europol „Werkzeuge“ anwendet, die eine Dateneinstellung, Übersetzung oder Datenextraktion in die Analysedateien erleichtern sollen. Datensätze würden „automatisiert miteinander abgeglichen“. Alle computergestützten Verfahren seien von Europol selbst konzipiert und entwickelt worden. Europol erklärt dazu in der Festschrift zum zehnjährigen Bestehen, es wäre für die Datenanalyse vorteilhaft dass alle Datensätze und Informationssysteme der Agentur untereinander verbunden seien.

Dass Datenbanken mit digitalen Hilfsmitteln durchsucht werden gehört zum Wesen der „Datenbankgesellschaft“, wie sie auch im Polizeialltag Einzug hält. Problematisch wird diese Praxis erst recht, wenn unterschiedliche Datensätze oder Datensammlungen miteinander verknüpft und damit zweckfremd genutzt werden. Die „Social Network Analysis“ wurde beispielsweise anlässlich einer Operation in Polen unter Anwesenheit von Polizeien aus Spanien und Italien gegen ein vermeintliches Geldfälscher-Netzwerk zuhilfe genommen. Während der Aktion war die spanische Polizei mit einem „mobilen Büro“ unterwegs, das direkten Zugang zu den Europol-Datenbanken gewährte. Eine Ermittlungssoftware hatte zuvor 25 Verdächtige aus immerhin einer Million aufgezeichneter internationaler Telefongesprächen herausgefiltert, die hierfür von polnischen Behörden über drei Jahre gesammelt und an Europol geliefert worden waren.

„Risikoanalysen“ zu Tierrechtsaktivismus

Seit mindestens 2002 findet sich in Europol-Dokumenten der Hinweis auf eine Beobachtung von innerhalb der EU aktiver Tierrechtsgruppen. Damals wurde darauf hingewiesen, dass es erfolgreiche strafrechtliche Operationen gegeben hätte, darunter Haftstrafen in Belgien von 30 Monaten bis zu fünf Jahren. „Radical militants of these movements have maintained their actions. Several successful law enforcement operations have been carried out in European Union countries“, erklärt der später als TE-SAT publizierte „Trend-Report“ für 2002.
Im Jahresbericht von 2003 wird erklärt, dass keine Straftaten durch die Mitgliedsstaaten gemeldet worden wären. Trotzdem wertete Europol „öffentlich zugängliche Quellen“ aus die zeigten, dass „Animal Rights Activists“ immer noch aktiv seien. Aufgezählt werden Anschläge und Befreiungsaktionen auf Nerzfarmen, zu deren Verantwortung sich jeweils die „National Animal Liberation Front“ bekannt hätte. Im Sommer seien „Aktionen und Angriffe“ gegen Bekleidungsgeschäfte in Schweden und Norwegen hinzugekommen, kurze Zeit später weitere Tierbefreiungen in Finnland, den Niederlanden und Dänemark. Europol erklärt einen zeitlichen und damit organisatorischen Zusammenhang der betreffenden Aktionen in den EU-Mitgliedsstaaten. Um Zweifel an der damit einhergehenden Zuständigkeit Europols auszuräumen wird berichtet, dass mindestens in den Niederlanden darüber diskutiert würde ob die Aktionen nicht sogar als Terrorismus zu werten seien. Dies mag den Eifer erklären, den die Verfolgungsbehörden der Niederlande seitdem in der strafrechtlichen Handhabung von Tierrechtsaktivismus auf EU-Ebene entwickeln. 2005 hatte die niederländische Delegation den EU-Innenminister_innen etwa ein nicht näher bezeichnetes Projekt gegen die „Bedrohung“ von „Tierrechtsextremismus“ vorgestellt. Zuletzt hatten die Niederlanden auf der Ratssitzung am 6. April 2009 einen entsprechenden Vorstoß unternommen: „The Council took note of the information given by the Netherlands delegation on the issue of violent animal rights activists. The NL delegation underlined the transnational character of this issue, which requires enhanced exchange of information and should be discussed in Europol“.

Die Aufmerksamkeit auf Tierechtsaktivismus änderte sich 2008 auffällig. Der Jahresbericht zu Terrorismus TE-SAT enthält die neue Kategorie „Single issue terrorism“, die fortan zum Sammelbegriff auch für „Tierrechtsextremismus“ und „Umweltextremismus“ dient. Für das im TE-SAT dokumentierte Jahr 2007 werden eine Reihe von Anschlägen im Bereich festgestellt: „European animal rights extremists were involved in arson attacks, letter bombs, and product contamination, as well as wide-spread acts of vandalism. Threats against employees, and their family members, of companies which are perceived to be involved in the mistreatment of animals are commonplace.124 The same applies to academic research institutions, such as universities, scientists, university staff and students.“.

Im gleichen Jahr hatte Europol auf einem Treffen der „Task Force der europäischen Polizeichefs“ (EPCTF) zu „Tierrechtsextremismus“ referiert.
Die Einrichtung der „Task Force der europäischen Polizeichefs“ wurde vom Europäischen Rat 1999 beschlossen, um in Zusammenarbeit mit Europol „Erfahrungen, bewährte Methoden und Informationen zu aktuellen Trends der grenzüberschreitenden Kriminalität“ auszutauschen und operative Maßnahmen zu planen. Gemäß dem Lissabon Vertrag wurde die Task Force der europäischen Polizeichefs mit der gleichzeitigen Arbeitsaufnahme des „Ständigen Ausschusses für die operative Zusammenarbeit im Bereich der inneren Sicherheit“ (COSI) im März 2010 abgeschafft. Die operativen Aufgaben der EPCTF werden nun durch den COSI übernommen.
Es kann angenommen werden, dass die Repressionswelle von 2007 gegen Aktivist_innen der Kampagne „Stop Huntingdon Animal Cruelty“ (SHAC) auch innerhalb der EPCTF thematisiert wurde. Auf der besagten Konferenz im Oktober hatte Europol „Erkenntnisse“ über „illegale Aktivitäten“ präsentiert, woraufhin der EPCTF-Vorsitz bei Europol eine „Bedrohungsanalyse“ in Auftrag gab. Ein britische Vertreter hatte einen vorausschauenden Charakter von Polizeimaßnahmen herausgestellt und gewarnt, dass Tierrechtsaktivismus geeignet sei, sich auf andere Mitgliedsstaaten auszuweiten und „ernsthafte finanzielle und wirtschaftliche“ Folgen mit sich bringe.

Auf dem nächsten Treffen der EPCTF hatte Europol die geforderte Analyse vorgelegt und immerhin bilanziert, dass die Szene von Land zu Land unterschiedlich sei. Die Behörde präsentierte sich selbst als Problemlösung und empfahl, Datensammlungen zu erweitern, die Zuständigkeit hierzu festzulegen, Bedrohungsanalysen zukünftig regelmäßig anzufertigen und weitere „Produkte“ von Europol hierfür zu nutzen. Tatsächlich wird die Bedrohungsanalyse seitdem vierteljährlich aktualisiert und fungiert als Entscheidungshilfe für nationale Strategien im Umgang mit „Tierrechtsextremismus“.
Personen- und Sachdaten zu Tierrechtsaktivismus werden in der Analysedatei „Dolphin“ („nicht-islamistischer Extremismus“) gespeichert. Auch deutsche Verfolgungsbehörden speisen laut Bundesregierung hierzu Informationen ein. Womöglich werden die Dateien „Dolphin“ und „Hydra“ („islamistischer Terrorismus“) bald zusammengelegt. Sollte dem oben geschilderten Ersuchen der US-Behörden nach Zugriff auf „Hydra“ entsprochen werden, hätten die USA auch Zugang zu den Datensammlungen zu Tierrechtsaktivismus.

Laut der österreichischen SOKO-Chefinspektorin Bettina Bogner gibt es bei Europol „Arbeitsgruppen“ zu Tierrechtsaktivismus. Bogner nahm auch an einer Konferenz zu „Tierrechtsextremismus“ im April 2008 in Den Haag teil, die von Europol organisiert wurde. Demnach sei es dort um Anschläge gegen Pharmabetriebe durch die Animal Rights Militia (ARM) gegangen. Der englische Polizist John Madigan, der ebenfalls im §278a-Verfahren vernommen wurde, erklärte er sei auf sieben oder acht solcher Konferenzen in Den Haag gewesen die alle von Tierrechtsaktivismus handelten und „strategische Fragen“ berieten. Dort hätte er auch Bogner getroffen.

„Hohes Maß an Vorsicht und Wachsamkeit gegenüber Tierschutz-Extremisten“

Aber nicht nur Europol wird gegen unliebsamen Aktivismus in Bezug auf Tierrechte in Anschlag gebracht. In seiner Antwort auf die schriftliche Anfrage der Abgeordneten Silvana Koch-Mehrin erklärt der Europäische Rat Anfang 2010, dass mit Europol, Eurojust, der Task Force der Polizeichefs und dem EU-Geheimdienstzentrum SitCen Einrichtungen zur Verfügung stehen, „die die Erhebung und den Austausch von Informationen über grenzüberschreitende Kriminalität erleichtern und damit zur Koordinierung der Reaktion auf diese Bedrohung unter grenzübergreifenden Gesichtspunkten beitragen“. Der Rat fordert ein „hohes Maß an Vorsicht und Wachsamkeit gegenüber Tierschutz-Extremisten“.

Auch die 2010 auf den Weg gebrachte Initiativen gegen „Radikalisierung“ dürften gegen Tierrechtsaktivismus in Stellung gebracht werden: Zur Debatte stehen neue grenzüberschreitende Datensammlungen oder Maßnahmen zur „Früherkennung“. Die vergangene belgische Ratspräsidentschaft hatte zudem angeregt, „Tierrechtsextremismus“ und Rechtsextremismus in die Europol-Analysedatei „Check the Web“ aufzunehmen.
Hinzu kommen Spitzel, zu deren grenzüberschreitenden Einsätzen sich die entsprechenden polizeilichen Abteilungen der EU-Mitgliedsstaaten in der „European Cooperation Group on Undercover Activities“ (ECG) organisieren. Jüngst aufgeflogene Polizeispitzel in linken Bewegungen wie auch der Einsatz der österreichischen Agentin „Danielle Durand“ legen eine fortschreitende Verwendung verdeckter Ermittler_innen auch in internationalen linken Zusammenhängen nahe. Die EU strebt hierfür gemeinsame Standards an. In der letzten Sitzung unter deutscher Präsidentschaft im Juli 2007 hatte der Rat eine Entschließung zur „Intensivierung der Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten bei der Bekämpfung der grenzüberschreitenden Schwerkriminalität durch den vereinfachten grenzüberschreitenden Einsatz von Verdeckten Ermittlern“ verabschiedet. Der Einsatz oder Austausch von Undercover-Polizist_innen ist beispielsweise in und aus Deutschland bislang nur mit den Niederlanden, Österreich, der Tschechischen Republik und der Schweiz geregelt. Angestrebt ist, Rechtsunsicherheiten aufzulösen und ausländische verdeckte Ermittler_innen inländischen gleichzustellen. Die „bisherigen praktischen Erfahrungen“ hätten gezeigt, dass ausländische verdeckte Ermittler_innen „in gewissen Konstellationen leichter in kriminelle Vereinigungen eingeschleust werden können“, schrieb der damalige deutsche Ratsvorsitz 2007 in einem Vermerk.

Juni 2011

Erstveröffentlicht in MACKINGER, Christof/ PACK, Birgit (Hg.) | „§278a: Gemeint sind wir alle! Der Prozess gegen die Tierbefreiungs-Bewegung und seine Hintergründe“